Menschen mit Behinderung sind in ihrer Kindheit und Jugend, aber auch im Erwachsenenalter deutlich häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen. Warum das so ist und was sich ändern muss, erklärt Pia Witthöft.

Es hilft enorm, sich Rat von außen zu suchen

Über Pia Witthöft
Pia Witthöft ist Diplom-Psychologin und leitet seit 2014 die „Mutstelle“ bei der Lebenshilfe Berlin – eine Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt an Menschen mit Lernschwierigkeiten. Dort berät und unterstützt sie mit ihren Kolleginnen Betroffene, Angehörige und Fachkräfte.

Frau Witthöft, laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums erfahren Frauen mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung in ihrer Kindheit und Jugend zwei- bis dreimal häufiger sexuellen Missbrauch. Warum ist das so?

Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung können sich oft weniger gut wehren und abgrenzen. Sie sind stark von ihren Familien und den Bezugspersonen aus ihren Betreuungseinrichtungen abhängig, erleben aber zugleich oft Beziehungsabbrüche und unsichere Bindungen. Sie kommen seltener und oft nicht selbstbestimmt in Kontakt mit Menschen außerhalb des Betreuungssystems. Dadurch fehlt zum Beispiel der Erfahrungsabgleich, den Kinder und Jugendliche sonst mit Gleichaltrigen machen können. Also die Beantwortung der Frage: „Ist es normal, dass …?“ Ein weiterer Aspekt, der auch im Erwachsenenalter eine Rolle spielt: Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung verstehen Zusammenhänge nicht immer und können sich vielleicht nicht gut ausdrücken. Zu Gleichaltrigen gibt es meist einen großen Unterschied in der emotionalen und kognitiven Reife. Das spielt vor allem bei Übergriffen zwischen Jugendlichen eine Rolle. Auch in diesem Alter kann ein Mädchen oder ein Junge mit einer kognitiven Beeinträchtigung sich sehr viel schlechter wehren und abgrenzen. Studien aus verschiedenen Ländern zeigen übrigens, dass die Betroffenheit auch bei Jungs mit Behinderung deutlich erhöht ist.

Wie können sich die Missbrauchserfahrungen von Menschen mit Behinderung im Erwachsenenalter auswirken?

Das ist ein weites Feld. Verkürzt könnte man zusammenfassen, dass Auswirkungen gar nicht so spezifisch sind für Menschen mit Behinderung. Wenn jemand eine Traumafolgestörung hat, dann äußert sich diese – egal, ob man eine Behinderung hat oder nicht. Zum Beispiel durch Schwierigkeiten, sich auf Beziehungen einzulassen, eine große Anhänglichkeit an bestimmte Personen, aber auch durch ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit und Regelmäßigkeiten. Oft fehlt das Gespür für die eigenen Grenzen – und die von anderen. Der Bezug zum eigenen Körper kann schwierig bis selbstschädigend sein. Verhaltensauffälligkeiten oder die Lernbehinderung selbst können umgekehrt auch Folge einer durch Gewalt entstandenen Traumatisierung sein. Vereinfacht gesagt: Wenn wir Stress erleben, lernen und verarbeiten wir nicht mehr gut. Und Trauma ist massiver Stress, wir befinden uns im Notfallmodus. Da geht es um das Überleben: Wir können nicht mehr entscheiden, wie wir uns verhalten, was wir gerne wahrnehmen, fokussieren oder gezielt lernen möchten. Je früher traumatisierende Einflüsse auf das sich entwickelnde Gehirn einwirken, desto weniger gut können sich bestimmte Funktionen des Gehirns und auch die Fähigkeit der Stressregulation entwickeln. Und desto stärker werden die Betroffenen später mit den Folgen zu kämpfen haben.

Wo findet sexualisierte Gewalt gegen Menschen mit Lernschwierigkeiten besonders häufig statt? Wer sind die Täter und Täterinnen?

Genau wie bei Menschen ohne Lernschwierigkeiten passiert sexualisierte Gewalt oft in der Familie oder in der Partnerschaft – vor allem in Beziehungen mit starkem Machtgefälle. „Tatorte“ können auch Einrichtungen der Behindertenhilfe sein, zum Beispiel eine Wohngruppe oder eine Werkstatt. Übergriffe können von Fachpersonen ausgehen, sehr häufig finden sie aber auch auf der Peer-Ebene unter Mitbewohner:innen oder Kolleg:innen statt. Insbesondere, wenn es keine aktiv gelebten sexualpädagogischen Ansätze und keine gut kommunizierten Schutzkonzepte gibt, dann fehlt es an der nötigen Sensibilität, um rechtzeitig einzugreifen oder um präventiv zum Beispiel beratende Angebote zu gestalten. Tabus und blinde Flecken erzeugen immer Nischen für potenzielle Täter:innen.

Seit 2014 gibt es Ihre Beratungsstelle für Menschen mit Lernschwierigkeiten in Berlin. Woher kommt der Name „Mutstelle“?

Mut spielt bei diesem Thema eine wichtige Rolle: Mut, den Betroffene von sexualisierter Gewalt oft verloren haben und wiederfinden möchten. Mut, den wir als Helfende brauchen, um die richtigen, manchmal unbequemen Schritte vorzuschlagen und darauf zu bestehen. Mut als psychologische Leitlinie unserer Beratungsstelle – so ist der Name entstanden.

Gerade in akuten Krisensituationen hilft es enorm, sich Rat von außen zu suchen und nicht nur im eigenen Kreis zu bleiben. Wir schauen uns alles unabhängig an und können helfen, die Situation neutral einzuordnen.

Wer nutzt das Angebot?

Wir beraten Menschen mit Lernschwierigkeiten, also Betroffene und Angehörige, aber auch Fachkräfte. Jede zweite Beratung findet mit Fachkräften statt. Zum Beispiel, wenn sich Betroffene selbst nicht äußern können, wollen oder nicht ausreichend verstehen, was ihnen passiert ist. Dabei ist es egal, ob die Betroffenheit akut ist oder schon weiter zurückliegt. An uns können sich also auch Menschen wenden, die ihre Gewalterfahrung in der Kindheit oder Jugend machen mussten. Wir beraten aber auch Institutionen, zum Beispiel bei der Ausarbeitung von Schutzkonzepten.

Warum ist es wichtig, dass es Beratungsstellen speziell für Menschen mit Lernschwierigkeiten gibt?

Ich hoffe, dass wir in Zukunft immer weniger solcher Sonderstrukturen brauchen. Aber für den Abbau dieser Strukturen braucht es genügend Wissen und gut vorbereitete Hilfsangebote. So etwas entwickelt sich über Jahre in vielen kleinen Schritten. Deswegen ist es wichtig, dass es Angebote wie die „Mutstelle“ gibt. Heute können zum Beispiel noch nicht alle Beratungsstellen für sexualisierte Gewalt komplette Barrierefreiheit bieten. Bei der „Mutstelle“ sind nicht nur alle Räume barrierefrei, sondern auch unsere Sprache und unsere Methoden. Wir verstehen die Lebenswelt von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Und wenn Betroffene es wünschen, beziehen wir auch das Unterstützungssystem in die Beratung ein.

Wie helfen Sie konkret?

Die Beratung richtet sich nach den individuellen Bedürfnissen des Gegenübers. Oft geht es zunächst darum, welche Schritte wichtig und möglich sind. Wir achten auch darauf, ob es Hinweise auf eine posttraumatische Belastungsstörung gibt. Bei der „Mutstelle“ bieten wir zwar keine Therapie an. Aber wir können die Betroffenen wenn nötig über einen gewissen Zeitraum stabilisieren und begleiten. Dabei kann es sinnvoll sein, das betreuende Umfeld mit einzubeziehen.

Welche Maßnahmen braucht es, um Menschen mit Lernschwierigkeiten vor sexualisierter Gewalt zu schützen?

Ich halte vor allem einen offenen und informierenden Umgang mit dem Thema Sexualität und Beziehung für sehr wichtig. Es wäre toll, wenn das schon in der Schule selbstverständlich wäre. Die Eingliederungshilfe trägt ebenfalls eine große Verantwortung: Sie braucht konkrete Schutzkonzepte und unbedingt auch Konzepte zur Sexualpädagogik. Es reicht aber nicht, diese Konzepte nur einmal zu schreiben. Sie müssen immer wieder aktualisiert und vor allem den Mitarbeitenden nahegebracht werden.

Warum empfehlen Sie Betroffenen, Angehörigen oder Fachkräften, ihren Mut zusammenzunehmen und Ihre Stelle zu kontaktieren?

Gerade in akuten Krisensituationen hilft es enorm, sich Rat von außen zu suchen und nicht nur im eigenen Kreis zu bleiben. Das sind oft komplexe und schwierige Situationen mit vielen Abhängigkeiten und Loyalitäten. Wir schauen uns alles unabhängig an und können helfen, die Situation neutral einzuordnen. Sowohl Betroffene als auch Angehörige oder Fachkräfte sollten wissen: Nicht nur die Gewalttat selbst, auch der Umgang mit ihr entscheidet, wie gut ein Mensch das Erlebte verarbeiten kann.

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